Sollte man Hamstrings dehnen, oder ist es nicht empfehlenswert? Die Antwort ist: Es kommt drauf an!
Im dritten Teil des Interviews mit Julia und Maria von Vienna Kinstretch haben wir einige Missverständnisse aufgeklärt, die mit diesem Thema zusammen hängen. Die Beiden sind Ex-Yogalehrerinnen und bieten gemeinsam eine Membership an, bei der es unter anderem um Mobillity Training und Verletzungsprävention geht. Heute berichten sie von ihren eigenen Erfahrungen und Fehlern, aus denen sie gelernt haben. Viel Spaß beim Interview!
Maria: „Das Absurde ist oftmals, dass viele Menschen glauben, dass sie etwas dehnen müssen. Ich habe etwa ein Jahrzehnt lang geglaubt, ich muss meine Hamstrings – die Oberschenkelbeinrückseiten – dehnen. Ich glaube, viele Menschen tun das noch. Das Ding ist aber, dass meine Hamstrings, so wie 99 Prozent der Hamstrings der Menschen, mit denen ich arbeite, schon in einer exzentrischen Orientierung sind. Das bedeutet im Prinzip, dass sie in einer langen Position sind.”
Julia: „Und die Beckenschüssel ist oft nach vorne gekippt. Das Wasser plätschert auf die Zehen, um das Beispiel aus dem zweiten Teil des Interviews aufzugreifen. Deswegen fühlen sich die Hamstrings kurz an.”
Maria: „Wenn ich Hamstrings habe, die ständig in einer langen Position sind, zieht das meine Hamstrings in eine längere Orientierung. Wenn ich dann glaube, etwas dehnen zu müssen, mache ich das Problem damit nur noch schlimmer.”
Vivi: “Yes! Das passt perfekt zu einer Frage, die ich von einer Followerin auf Instagram bekommen habe: “Wie soll ich die Beinrückseiten verlängern und meine Hamstrings dehnen?” Was würdet ihr mit dieser Frage machen, um sie zu beantworten?”
Maria: “Ich glaube, ich muss erst einmal klarstellen, ob ich die Rückseite verlängern sollte. Das muss man erst einmal evaluieren. Für die meisten Menschen wird die Antwort Nein sein. Vor allem für Menschen, die einen Background vom Yoga oder Tanz haben, besteht meistens keine Notwendigkeit, dieses Gewebe in eine längere Orientierung zu bringen.”
Julia: “Die Frage ist auch hier: In welcher Position steht deine Beckenschüssel, wenn du nicht drüber nachdenkst? Wenn du jemand bist, der häufig im Hohlkreuz steht, dann ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass die Beckenschüssel nach vorne geneigt ist. In dem Fall geht es mehr darum, Kräftigung an die Beinrückseite zu bringen, um die Beckenschüssel aufzurichten. Dann wird auch dieses Gefühl verschwinden, die Beinrückseite ständig dehnen zu müssen.”
Vivi: “Genau, man kann sich das so vorstellen: Die Muskulatur der Beinrückseite setzt an den Sitzbeinhöckern an und zieht bis runter zu den Knien. Die Sitzbeinhöcker sind hinten am Becken befestigt. Das heißt, wenn eure Beckenschüssel nach vorne gekippt ist, dann müssen diese Beinrückseiten lang sein. Es sollte aber möglich sein, die Schüssel auch nach hinten oder gerade ausrichten zu können.
Dafür braucht es eine Aktivierung dieser Beinrückseiten. Es muss dafür gesorgt sein, dass das Gehirn weiß, was es machen soll und dann muss die Muskulatur gestärkt werden.”
Julia: “Ja, richtig. Die gerade Bauchmuskulatur ist nicht die einzige Muskelgruppe, die für die Beckenaufrichtung zuständig ist. Das sollte auch über die Beinrückseite möglich sein. Viele Menschen können das aber nur über die gerade Bauchmuskulatur steuern.”
Vivi: “Es ist aber auch schwierig, im Stehen die Beinrückseite anzusteuern. Und oft herrscht dieses Szenario: ‚Spanne deinen Bauch an, dann schützt du deinen Rücken‘.”
Julia: “Ein Punkt ist auch, das Schambein hochzuziehen. Wenn man sagt Schambein hochziehen, verführt das dazu, sehr viel über die gerade Bauchmuskulatur zu ziehen.
Man muss meistens im Liegen anfangen, seine Beinrückseite anzusteuern und die Kräftigung zu starten. Wenn man es im Liegen gelernt hat, kann man langsam in andere Positionen gehen. Irgendwann ist es dann auch im Stehen möglich, die Beinrückseite aktiv zu spüren. Aber das ist, wie Maria und ich erfahren durften, ein langer Prozess.”
Maria: “Die Idee dahinter ist ja, dass ich eines Tages im Alltag nicht darüber nachdenken muss oder ich niemals darüber nachdenken muss, wie ich mich bewege. Sondern mich durch mein Training so positioniere, dass mein Becken und mein Brustkorb gut ausgerichtet sind. Dann brauche ich im Alltag nicht darüber nachzudenken.
Wenn ich den ganzen Tag, wenn ich einen Schritt vor den anderen setze und die Straße herunterlaufe, ständig darüber nachdenken muss, wo ich was hochziehe, dann wird man, glaube ich, schnell überfordert sein. Ich glaube, es wird oft nicht so dargestellt. Wir kriegen häufig Fragen, wie man im Alltag die Haltung verbessert, woran man denken und wie man atmen soll.”
Julia: “Ich glaube, es ist eine Phase, wenn man alle diese neuen Dinge lernt und beginnt zu trainieren. Man freut sich dann darüber, im Alltag wahrzunehmen, dass man z.B. den Brustkorb bewegen kann usw. Darin steckt sehr viel Freude und ich finde, diese Phase darf absolut existieren.
Wenn auf einmal so viel Aufmerksamkeit dann auf den Bewegungsapparat liegt. Aber eben, wie Maria schon gesagt hat, mit dem Wissen, Bewegungen sollen wieder automatisch erfolgen.
In unserem Training haben wir sehr viele Intentionen, damit wir im Alter möglichst überhaupt nicht drüber nachdenken müssen, was wir eigentlich machen und wie wir uns bewegen.”
Maria: “Ich glaube, ich bin da etwas vorbelastet. Ich komme aus einer bestimmten Yoga-Schiene, wo sehr bewusst ständig micro-gemanaged wurde und mich das wirklich verrückt gemacht hat.
Ich bin wirklich im Alltag herumgegangen, gestanden, habe irgendwelche normalen Aktivitäten ausgeführt und einfach viel zu viel darüber nachgedacht, wie ich mich positioniere, oder wie ich Bewegungen ausführe. Deshalb bin ich mir dieser Fallen – in die man tappen kann, wenn man neue Dinge lernt – extrem bewusst.”
Vivi: “Aber ich finde, gerade diese Phase der Begeisterung ist ja mega ultra schön und extrem wichtig dafür, dass man dieses Feuer am Laufen hält, dieses Interesse, die Begeisterung für die Bewegung usw.
Es gibt natürlich zwei Seiten. Wenn man sich zu viele Gedanken darüber macht und einerseits auch wieder alles im normalen Alltag geschehen zu lassen, sich dessen aber trotzdem bewusst zu sein.”
Maria: “Ja, und ich glaube auch bei Menschen, die lange mit Schmerzen leben, kommt viel aus der Angst heraus. Ich habe z.B. einen Klienten, der mir konkret einfällt. Er hat so lange mit Schmerzen gelebt, dass er sich angeeignet hat, ständig über alles nachzudenken. Weil wenn er eine Bewegung nicht exakt ausführt, ist er sofort wieder im Schmerz. Dann ist es normal, dass man darin erstmal „gefangen“ ist.
Das Ziel, oder zumindest meine Perspektive von einem guten Leben und Fitness und Gesundheit ist, dass ich mich möglichst unbefangen bewegen kann.”
Julia: “Die Bewegungs-Effizienz steigert sich ja auch dadurch, dass du entspannt sein kannst. Dass du relaxt sein kannst und dass du nicht hinein gehst und dich fragst wie du managen musst, einen Stift vom Boden aufzuheben. Sondern dass du ihn einfach aufheben kannst, ohne darüber nachzudenken, wie du dich positioniert. Es gibt nicht nur die EINE korrekte Möglichkeit etwas zu machen.”
Maria: “Wir lachen darüber, aber es gibt Youtube-Videos, die Millionen Views haben, die Leuten ganz genau erklären, wie sie sich nach vorne beugen sollen, um einen Stift aufzuheben. Wirklich schockierend. Es ist super professionell produziert, mit irgendwelchen Wissenschaftlern und Physiotherapeuten, die erklären, dass man genauso breit stehen soll und wo man sich beugt. Wenn man das als Laie sieht, kann man niemandem übel nehmen, dass man glaubt, das sei die einzige Wahrheit.”
Vivi: „Zu diesem Thema und über Schmerzen und Gedanken zu Bewegung habe ich meine erste Podcastfolge aufgenommen, mit Leon von Moving Monkey. Er war für mich vor ein paar Jahren der erste Mensch, der mit CARs etc hinausgegangen ist und das promotet hat. Darin ging es um das Thema Nocebos, also was Worte mit uns machen, und wie sehr sie uns beeinflussen können.
Darüber haben wir heute auch sehr oft gesprochen. Es geht auch immer mit darum: Was ist die Motivation der Patient:innen, die zu uns kommen? Vielen Dank für den tollen Austausch, es hat mir sehr viel Spaß gemacht, mit euch zu sprechen.“
Wenn dir die Interviewreihe gefallen hat und du mehr über Julia und Maria erfahren möchtest, dann schaue dir gerne ihre Webseiten an. Lies‘ dir auch gerne Teil 1 und Teil 2 des Interviews durch und wenn du Fragen hast, schreibe sie in die Kommentare.
Folge mir auch gerne auf Instagram, um noch mehr Tipps und Tricks für deine Gesundheit zu bekommen. Ich freue mich auf dich!
Viele Grüße an die Füße,
Vivi